Miriam Schmidt in Wien
Miriam Schmidt ist Projektleiterin für den Ausbau der Offenen Ganztagsgrundschule im Stadtbetrieb Schulen und absolvierte ihr Praktikum vom 30.Mai bis 17.Juni 2022 in Wien.
Sie arbeitete in der Stabsstelle "Bildungscampus" der Magistratsabteilung Wiener Schulen. Schwerpunkt ihres Praktikums war die Umsetzung "des Ganztags" an Wiener Schulen und die Zusammenarbeit verschiedener Bildungseinrichtungen unter einem Dach.
Das österreichische Bildungssystem
Österreich hat - wie Deutschland - einen föderalen Staatsaufbau. Wien ist eines von neun Bundesländern, das ähnlich wie die Stadtstaaten Bremen und Hamburg gleichzeitig kommunale Aufgaben wahrnimmt. Damit enden aber schon die föderalen Gemeinsamkeiten vor allem in Bezug auf das Bildungssystem.
Während "Schule" bei uns reine Ländersache ist, setzt der Bund in Österreich die Standards für die Schulbildung und entscheidet über das Schulrecht. Österreichweit gibt es nur ein Schulsystem, das sich in allgemeinbildende Pflichtschulen (Volks-, Mittel-, Sonder- und polytechnische Schulen) und allgemeinbildende höhere Schulen (Gymnasien) sowie Berufsschulen gliedert. Die allgemeinbildenden höheren Schulen führen zur Matura (Abitur) und liegen in der Zuständigkeit des Bundes (auch beim Schulbau). Die Pflichtschulen sind hingegen Landesschulen, wobei die Kommunen als "Schulerhalter" (bei uns Schulträger) den Schulbau erledigen müssen.
Gesteuert wird das Bildungswesen seit der Bildungsreform 2017 durch die so genannten "Bildungsdirektionen" - einer Bund-Länder-Behörde, in der u.a. Aufgaben wie Schulaufsicht, Schulentwicklung und Lehrpersonal gebündelt sind. Ob dieser "semi"-zentralstaatliche Steuerungsansatz zu besseren Bildungsergebnissen führt, wird sich meiner Meinung nach erst in einigen Jahren herausstellen. Bisher belegte Österreich etwa bei der Bildungsvergleichsstudie PISA auch nur Plätze im Mittelfeld.
Und wie funktioniert die Schulverwaltung in NRW? Bei uns gliedert sich die Schulverwaltung in innere Schulangelegenheiten (u.a. Schulaufsicht, Bildungsinhalte, Schulformen, Lehrpersonal), für die das Land zuständig ist, und in äußere Schulangelegenheiten (z.B. Schulinfrastruktur, Schulbau), die kommunale Aufgabe sind. Der Bund hat im Schulwesen nichts mitzuentscheiden.
Bei diesem Überblick über das österreichische Bildungssystem will ich es bewenden lassen. Meinen Praktikumsort habe ich mir aus einem anderen Grund ausgesucht.
Im Stadtbetrieb Schulen bin ich für den Ausbau der Offenen Ganztagsgrundschule (OGS) zuständig. Ab 2026 gilt in Deutschland ein Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz für Grundschulkinder. Angesichts einer aktuellen OGS-Quote von knapp 40 Prozent eine Herkulesaufgabe für unsere Stadt!
"Der Ganztag" in Wien
In Wien gibt es zwei Ganztagsformen: Zum einen die offene Form, die unserer OGS ähnelt. Eltern können (müssen aber nicht) ihre Kinder nach der Halbtagsschule zu einer kostenpflichtigen Betreuung am Nachmittag anmelden. Die andere Form ist der "verschränkte Ganztag" in der Ganztagsvolksschule (GTVS). Dabei handelt es sich um eine gebundene Ganztagsschule (Schulzeit von 8 bis 15:30 Uhr), in der über den Tag verteilt Unterricht und Freizeit rhythmisiert sind. Diese verpflichtende Form ist gratis (inklusive Mittagessen) und wird gerade von berufstätigen Eltern stark nachgefragt. Gegen eine Gebühr kann zusätzlich noch eine Früh- (ab 6:30 Uhr), Spät- (bis 18 Uhr) und Ferienbetreuung gebucht werden.
Der Wiener Bildungscampus
Was ist ein Bildungscampus? Seit mehr als zehn Jahren setzt die Stadt beim Bildungsbau auf das Modell "Bildungscampus". Unter einem Dach sind verschiedene ganztägige Bildungseinrichtungen vereint. Ziel ist es, durch die räumliche Nähe eine bessere pädagogische Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen den Bildungseinrichtungen in der Regel von Kindergarten und Volksschule zu ermöglichen und so Bildungsübergänge ohne Brüche zu organisieren. Bildung wird also vom Kind und nicht mehr von der Institution aus gedacht. So soll Bildungserfolg von der sozialen Herkunft entkoppelt werden
Monte Laa war 2009 der erste Campus, der in Betrieb ging. Der Name ist auf die in Wien gebräuchliche Bezeichnung Monte Laa für den nahegelegenen Laaer Berg zurückzuführen, ein Siedlungs- und Wohngebiet, das in den Jahren 2001 bis 2008 auf einer Überplattung der Südosttangente entstanden ist. Auf 8.500 Quadratmeter sind eine vierzügige Ganztagsvolksschule und ein elfgruppiger Kindergarten gemeinsam untergebracht. 600 Kinder besuchen den Campus. Bis 2023 werden über 15 Campusstandorte ihre Arbeit aufgenommen haben.
Das Campus-Konzept wird stets weiterentwickelt: Neben Kindergarten und Volksschule finden an den neueren Standorten zusätzlich Mittel- und Sonderschulen sowie Stadtteilfunktionen (z.B. Musikschule, Jugendtreff) Platz.
Der 2016 fertig gestellte Campus Berresgasse umfasst die wahnsinnig große Fläche von 19.100 Quadratmetern für mehr als 1.100 Kinder. Alle Standorte sind zudem für die Mehrfachnutzung konzipiert. So dürfen Sportanlagen oder Veranstaltungsräume nach Schulschluss auch vom Stadtteil genutzt werden. Ähnlich wie bei uns läuft es dabei mit der Nachbarschaft nicht immer reibungsfrei - vor allem am Wochenende.
Wien wächst. Neue Wohnungen werden genauso gebraucht wie die notwendige Bildungsinfrastruktur. Deshalb sind bis 2034 noch weitere neun Standorte in Planung, die wegen ihres großen Flächenbedarfs in Stadtentwicklungsgebieten in den äußeren Bezirken entstehen.
Alleine die Schulneubauten reichen nicht aus, um die wachsende Schüler*innenzahl zu bewältigen. Deshalb werden auch Bestandsbauten saniert, baulich erweitert und an moderne Pädagogik angepasst. Angesichts knapper Flächen werden auch kreative Wege gesucht: So wurde eine Mittelschule über einem Supermarkt eingerichtet. Die Sportanlage befindet sich auf dem Dach.
Im Durchschnitt werden jährlich 120 Klassen gebaut. 2022 waren es sogar 222. Bis 2023 werden 2,6 Mrd. Euro in Neubau, Sanierung und Erweiterungen von Schulen geflossen sein. Eine unfassbar große Summe angesichts der 3,5 Mrd. Euro, die an Investitionsmittel für den Rechtsanspruch für ganz Deutschland vorgesehen sind.
Public-Private-Partnership (PPP) im Schulbau: Das Wiener Modell
Auch Wien hat einen hohen Schuldenberg angehäuft. Die Stadt muss Schuldenbremse und "Maastricht-Kriterien" einhalten. Woher kommt also das ganze Geld für den Bildungsbau?
In Deutschland sind öffentlich-private Partnerschaft zur Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur auf dem Rückzug. Deshalb war ich auch skeptisch als ich hörte, dass die Campusstandorte im PPP-Modell gebaut und betrieben werden. Mittlerweile geht ein Campus nach dem anderen in Betrieb und das bisher ohne Insolvenzen oder öffentliche Skandale. Das hat mich neugierig gemacht, warum PPP in Wien gelingt und habe den Leiter des PPP-Kompetenzzentrums dazu befragen können.
Die Verwaltung hat sich in den letzten Jahren eine eigene PPP-Expertise (Vertrags- und Vergaberecht, Wirtschaftsprüfung, Bautechnik) aufbauen können, die auch mit den dafür notwendigen Personalressourcen verbunden ist. Niemand macht PPP "nebenbei" mit. Beschäftigte aus dem PPP-Kompetenzteam steuern auch mithilfe von externem Sachverstand die komplexen Projekte. Das ist für mich die erste und vielleicht auch wichtigste Gelingensbedingung.
Nach dem Wiener Modell treibt die Stadtverwaltung ein Bauprojekt selbst soweit voran, bis die Baugenehmigung vorliegt. Erst danach kommen die PPP-Partner ins Spiel, die über eine europaweite Ausschreibung gefunden werden. Die PPP-Partner finanzieren, bauen (auf städtischem Grund) und betreiben den Campus über 25 Jahre. Danach fällt das Gebäude an die Stadt. Für die Nutzung wird ein Verfügbarkeitsentgelt gezahlt, dessen Höhe ich leider nicht erfahren haben. Darin inkludiert sind auch Facility Management und Instandhaltung.
Wie teuer ein solches PPP-Projekt für die öffentliche Hand am Ende ist und ob es sich rechnet, kann ich nicht beantworten. Da aber ein Campus nach dem anderen in Betrieb geht, macht es Sinn, sich dieses Modell noch einmal genauer anzusehen.
Multifunktionale Raumgestaltung
Jeder wird sich noch gut an seine eigene Schulzeit erinnern, in der die Halbtagsschule noch nach dem "Klassenraum-Flur"-Prinzip strukturiert war. In der Regel gab es einen langen Flur, an dem links und rechts jeweils Klassenräume abgingen. Dann gab es noch eine kleine Aula oder Turnhalle und vielleicht einen Schulkiosk, in dem der Hausmeister während der Pause Schokoriegel und Capri-Sonne verkauft hat. Dieses "Raumprogramm" entspricht nicht mehr den heutigen Anforderungen moderner Pädagogik mit Ganztag, Inklusion, Digitalisierung und dem Umgang mit heterogenen Lerngruppen.
Da sich Kinder heute den ganzen Tag in Schule aufhalten, werden Räume multifunktional gestaltet. Sie sind nicht nur auf den "Unterricht" festgelegt, sondern müssen über den Tag verteilt unterschiedliche Funktionen erfüllen können. Es werden Bereiche für das Spielen, für Bewegung und Entspannung genauso wie Küchen und ansprechende Speiseräume benötigt.
In Wien habe ich viele Campusstandorte besichtigt und Gespräche mit den Nutzer*innen über die Praxistauglichkeit der Raumprogramme und Ausstattungen führen können. Schön zu sehen war die Entwicklung der Raumprogramme vom ersten Campus "Monte Laa" zu den in diesem Jahr eröffneten Standorten.
In NRW gibt es keine Muster-Raumprogramm für Schulen. Möglicherweise wird dies Teil eines noch zu beschließenden Ausführungsgesetzes für den Rechtsanspruch sein. In Wuppertal orientieren wir uns derzeit am Raumprogramm des Deutschen Städtetags, in dem Multifunktionalität ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.
Inwieweit die räumliche Nähe die Übergänge zwischen den Bildungseinrichtungen tatsächlich verbessert, kann ich nach der kurzen Zeit nicht bewerten. "Der Raum" ist für mich aber nicht die einzige Voraussetzung für ein gelingendes Übergangsmanagement. Auch wenn es ein pädagogisches Konzept "Bildungscampus" gibt, wären meiner Auffassung nach ein gemeinsamer und verbindlicher Bildungsrahmenplan für Kindergarten und Volksschule erforderlich, mit dem die Zusammenarbeit strukturell abgesichert werden könnte.
Ganztag als Lebensort
Im Ganztag wird Schule zum Lebensort der Kinder. Deshalb tauchen neue Fragestellungen wie die der Gesundheitsfürsorge auf. In den Schulen gibt es regelmäßige schulärztliche Sprechstunden und an einem Standort läuft derzeit das Pilotprojekt "School Nurse". Diese Schulgesundheitspflegeperson berät in Gesundheitsfragen, versorgt Platzwunden oder hilft bei Bauchschmerzen, damit Kinder nicht immer direkt von der Schule abgeholt werden müssen.
Ein gesundes Mittagessen gehört in unserer OGS heute schon selbstverständlich dazu. In Wien gibt es zusätzlich noch die "Jause" als Zwischenmahlzeit am Vor- und Nachmittag sowie die Versorgung mit Trinkwasserbrunnen, an denen sich die Kinder selbst bedienen können. Diese Qualitätsthemen sollten wir beim OGS-Ausbau im Blick behalten.
Auch an Wiener Schulen mangelt es an pädagogischem Personal. Die Stadt setzt deshalb auf Quereinsteiger*innen, die nachqualifiziert werden. Das Thema wird uns beim OGS-Ausbau intensiv beschäftigen müssen.
"Kollegiale Führung"
Die meisten Wiener Schulen werden - wie wir es kennen - von einer/m Schulleiter*in geleitet, häufig unterstützt durch eine Schulsekretärin. An großen Schulen gibt es bei uns vereinzelt schon Verwaltungsassistenten, die Schulleitungen von administrativen Aufgaben entlasten.
Im Campus-Modell sind pädagogische und administrative Aufgaben formal durch die "Kollegiale Führung" getrennt. Die kollegiale Führung besteht aus den pädagogischen Leitungen von Kindergarten und Schulen sowie aus den "Administrator*innen", die sich um die Schulverwaltung kümmern. Die Zusammenarbeit soll auf "auf Augenhöhe" erfolgen.
Zu den Aufgaben der Administration gehören u.a. Schulanmeldungen, Essenbestellungen, An- und Abmeldungen für Früh- und Spätdienst, Finanzverwaltung und teilweise auch die Personalsachbearbeitung für die Freizeitpädagog*innnen. Ich konnte mit Administrator*innen über ihre (tatsächlichen) Tätigkeitsprofile sprechen und ich verrate sicherlich nicht zu viel, aber die kollegiale Führung kann durchaus konfliktbelastet sein. Die kollegiale Führung ist meiner Meinung nach kein Modell für Wuppertal.
Abstecher zum "Bildungsgrätzl"
Ein "Grätzl" ist die mundartliche Bezeichnung für einen Bezirk analog zum Kölner Veedel oder Berliner Kiez. In stark verdichteten und gewachsenen Bezirken können keine Campusstandorte errichtet werden. Deshalb müssen andere Wege gefunden werden, Kooperationen zwischen Bildungseinrichtungen zu organisieren. Deshalb habe ich mich auch mit dem Konzept "Bildungsgrätzl" als stadtteilbezogenes Bildungsmanagement auseinandergesetzt.
In einem "Bildungsgrätzl" organisieren sich die örtlichen Bildungs-Player wie Schulen, Kindergärten, VHS, Sportvereine, Wohlfahrtsverbände und Büchereien in einem informellen Netzwerk. Damit soll eine Kultur "Wir gestalten unser Bildungssystem" etabliert werden. Der Erfolg des "Bildungsgrätzls" hängt damit stark vom Engagement vor Ort ab. Beispielhaft dafür steht das erste Bildungsgrätzl "Schönbrunn" , in dem ein durchgängiges Bildungsangebot von Kindergarten bis zur Mittelschule für MINT und Spanisch entwickelt wurde. Für die "Bildungsgrätzl" gibt es eine kleine Förderung, mit denen Projekte oder gemeinsame Fortbildungen finanziert werden können. Bei der Eröffnung eines neues "Bildungsgrätzls" im 12. Bezirk durfte ich samt örtlicher Politprominenz dabei sein.
Von Expositurklasse bis Supplieren
Am Ende meines dreiwöchigen Aufenthalts habe ich an der KASSA nicht mehr "mit Karte", sondern "mit Bankomat" bezahlt. Und im Restaurant habe ich faschiertes Laibchen (Frikadellen), Kren (Meerrettich) und Karfiol (Blumenkohl) bestellt. Es dauerte einige Tage bis ich ein Ohr für das Wienerische bekommen habe. Den Dialekt finde ich sympathisch, oft witzig-charmant und voller edler Wortwendungen. Dazu gehören zum Beispiel "Supplierpläne" (bei uns schlicht "Vertretungsplan") oder Expositurklasse (Klasse, die in einem Ausweichquartier untergebracht ist).
Wie kaum eine andere Stadt hat Wien eine hohe Lebensqualität und unheimlich viele Freizeitmöglichkeiten zu bieten. Ich bin gerne in das Wiener Lebensgefühl eingetaucht. Es wird nicht mein letzter Besuch gewesen sein.
Klimaschutz und Klimafolgenanpassung
Während meines Aufenthaltes wohnte ich im 7. Bezirk "Neubau", der mitten in der Stadt liegt. Ein sehr schöner Ort zum Wohnen, Leben und Arbeiten. Der Klimawandel und seine Folgen sind aber auch dort spürbar. Schon Anfang Juni glühte der Asphalt vor Hitze und ich kann verstehen, warum sich die Wiener*innen am Wochenende in der Donau abkühlen oder lieber gleich auf's Land fahren. Das Wochenende habe ich auch gerne so verbracht.
"Mein Grätzl" ist beim Klimaschutz nicht untätig: Es gibt zahlreiche Maßnahmen, mit denen zum Beispiel die Hitze in der Stadt reduziert wird: Dazu gehören die Einrichtung "Kühler Zonen", Baumpflanzungen auf Parkflächen, "Grätzloasen" oder "Wassersprudler" und Trinkwasserbrunnen.
Flächendeckende Umweltspuren, "Beruhigungszonen" und günstige "Öffis" reduzieren den Autoverkehr und schonen das Klima. Sich das konzeptionell einmal anzusehen, wäre sicherlich ein eigenes Praktikum wert.
Danke Wien!
Ich habe das Praktikum als unglaubliche Bereicherung empfunden. Die Kolleg*innen waren offenherzig und haben mir viele Einblicke in die Abläufe der Wiener Schulverwaltung gewährt. Ich habe viele Antworten gefunden. Gleichzeitig sind noch viele neue Fragen entstanden, denen ich bei der Entwicklung des Ganztags in Wuppertal nachgehen will.