Joanna Zivojevic absolvierte während ihrer Ausbildung zur Verwaltungswirtin vom 03.07.2023 - 14.07.2023 ein Praktikum im Rathaus von Goražde.
Meine Wurzeln liegen in Bosnien und Herzegowina. Ich kann die Sprache ein wenig und so war klar: ich möchte ein EU-Praktikum in der Heimat meiner Familie absolvieren - der Stadt Goražde, um das Leben und Arbeiten dort kennen zu lernen und meine Sprachkenntnisse zu verbessern.
Goražde, eine Stadt mit 22.000 Einwohner*innen liegt circa 50 Kilometer südöstlich von Sarajevo an der Drina. Im Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 war die Stadt zwischen bosnischen Serben und Muslimen (Bosniaken) heftig umkämpft. Goražde war die einzige, mehrheitlich von Bosniaken bewohnte Stadt an der Drina, die sich während der kriegerischen Auseinandersetzungen aus eigener Kraft verteidigen konnte. Viele Bosniaken bezeichnen diese Stadt deswegen als Grad Heroja, was so viel bedeutet wie „Stadt der Helden“.
Goražde ist übrigens seit 1998 die Partnerstadt von Mettmann.
Düsseldorf – Goražde: 1580 km mit dem Flixbus
Dafür hatte ich mich entschieden, weil mir das Fliegen nicht ganz geheuer ist. Heute weiß ich, dass ich das ich nicht noch einmal mache. Ich war 31 Stunden unterwegs!
Angekommen in meinem sehr netten Apartment, schlief ich erst einmal richtig aus.
Am Montag um 8:00 Uhr wurde ich im Rathaus der Stadt Goražde erwartet. Mein Mentor Armin Čavrk, Head of the General Administration Department, und Amila Perla, die derzeitige „Auszubildende“, begrüßten mich herzlich. Sie zeigten mir das Rathaus und die Räumlichkeiten und erklärten mir währenddessen die Struktur der Stadtverwaltung, welchen Auftrag die jeweiligen Abteilungen und somit auch die ca. 50 Mitarbeitenden haben.
Die Aufgaben des Sozialamtes und des Bürger- und Standesamtes durfte ich näher kennen lernen.
Das Sozialamt
Das Sozialamt ist in zwei Sachgebiete aufgeteilt – die Abteilung „Sozialhilfe“ und die Abteilung „Strategische Entwicklung der Jugendarbeit“.
Während meiner Hospitation in der Abteilung „Sozialhilfe“ bekam ich einen kleinen Einblick in die Aufgaben der Mitarbeitenden. Wie bei uns werden dort u.a. Hilfeleistungsanträge bearbeitet. Das Besondere: zur Zielgruppe der Hilfesuchenden gehören auch die vielen Kriegsversehrten in Goražde. Durch ihre körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen können sie oft nur eingeschränkt oder gar nicht mehr arbeiten. Entsprechend fehlen ihnen die finanziellen Mittel, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Ihnen wird u.a. günstiger Wohnraum zur Verfügung gestellt.
Nach dem Krieg baute die Stadt Goražde Mehrfamilienhäuser für Menschen mit Sozialhilfeanspruch, die allerdings längst nicht den Bedarf an günstigen Wohnraum decken. Die städtischen Mittel sind beschränkt, sodass die Mitarbeitenden des Sozialamtes nicht allen Antragsstellenden eine Wohnung zur Verfügung stellen können. So wohnen Betroffene derzeit bestenfalls bei ihren Familien, aber oft in ihren zerstörten Häusern - ohne Wasser und Strom oder auf der Straße.
Die Mitarbeitenden der Abteilung „Strategische Entwicklung der Jugendarbeit“ beschäftigt ein ganz anderes Problem: Junge Menschen verlassen Bosnien und somit auch Goražde, weil ihnen eine berufliche und soziale Perspektive fehlt. So sucht man nach Lösungen, junge Menschen an den Ort zu binden.
Unterstützung finden sie dabei durch die Teilnahme an einer Arbeitsgruppe im Rahmen des „Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen“ (UNDP), eine Organisation, die sich u.a. dafür einsetzt, Länder und Menschen beim Aufbau eines besseren Lebens zu unterstützen.
In Zusammenarbeit mit Institutionen und Behörden in Bosnien und Herzegowina unterstützt UNDP seit 1996 die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie die Widerstandsfähigkeit gegenüber Klimawandel und Katastrophen und hilft Menschen und Gemeinschaften, sich von Krisen zu erholen und ihre Lebensgrundlagen zu verbessern.
Gemeinsam wird nach Strategien gesucht sowie Ideen und Best-Practice Beispiele ausgetauscht.
Um der Abwanderung von jungen Menschen entgegen zu wirken, organisieren die Mitarbeitenden der „Strategischen Entwicklung der Jugendarbeit“ u.a. große Veranstaltungen und Feste.
Mitwirken durfte ich in diesem Rahmen an den Vorbereitungen des großen Festivals, welches jährlich in den ersten zehn Tagen im August stattfindet. Beispielsweise übersetzte ich Einladungen für Städte und Investoren in Deutschland.
Die größere Herausforderung für mich war jedoch, Teil einer Videodokumentation zu werden: Ich wurde gefragt, ob ich für ein Interview zur Verfügung stehe. Ich sollte erzählen, was mich bewegt hat, in Goražde ein Praktikum zu absolvieren. Schließlich zeigte ich Interesse an der Arbeit und an dem Leben in Goražde.
3 Fragen hatte ich zu beantworten:
- Wie ich heiße ich und wie alt ich bin?
- Warum ich mich für ein Praktikum in Goražde entschieden habe?
- Was ich während meines Praktikums in der Stadtverwaltung erfahren habe und was ich anders machen würde?
Klar, dass die erste Frage sehr leicht zu beantworten war. Aber über die anderen Antworten musste ich mir doch lange Gedanken machen. Ich entschloss mich schließlich, über meine familiären Bindungen zu berichten und mein Wohlbefinden zu beschreiben, wenn ich hier bin.
Die dritte Frage war sehr speziell. Erlebtes zusammenzufassen geht sehr schnell, aber zu beschreiben, was ich verbessern würde …? Mir fehlen die beruflichen Erfahrungen, um eine solche Frage zu beantworten. Stattdessen berichtete ich über meine Ausbildung bei der Stadt Wuppertal – wie wir ausgebildet werden und was ich bereits gelernt habe.
Ich war während des Interviews sehr nervös. Zwei Mal mussten wir das Interview unterbrechen, damit ich mich wieder sammeln konnte. Dennoch – ich bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis.
Am ersten Tag des Festivals wurden die Aufnahmen gezeigt. Leider ohne mich, denn mein Praktikum war zu dieser Zeit bereits zu Ende.
Auch die kulturellen Einrichtungen in Goražde bereiteten sich auf das Festival vor.
Mit der Leiterin des Sozialamtes, Samira Drakovac, besuchte ich deshalb die Galerie von Goražde, denn dort wurden -extra für das Festival- neue Werke von Künstler*innen präsentiert.
Ein Mitarbeiter der Galerie führte uns durch die Galerie. Viele Stücke dort sind von Künstler*innen aus der „Diaspora“ gemalt worden. „Diaspora“ ist die gängige Bezeichnung für Menschen mit bosnischen Wurzeln im Ausland.
Samira Drakovac nahm sich auch die Zeit, mit mir zur Aussichtsplattform „Gubavica“ zu wandern. Es ging steil bergauf durch den Wald über einen unbefestigten Trampelpfad. „Feste Schuhe sind Pflicht“ und ich war froh, dass ich der Empfehlung gefolgt war, denn der Weg war (fand ich) gefährlich. Den gehe ich nicht noch einmal! Allerdings: Die Aussicht ist wunderbar.
In Bosnien gibt es ein Amt, welches es bei uns nicht gibt.
Armin Čavrk und ich haben lange danach gesucht … es gibt auch keine deutsche Übersetzung für dieses Amt. Vergleichbar sind die Aufgaben dort mit denen unseres „Standesamtes“ und „Bürgeramtes“. Verschiedenste Bürgeranliegen werden hier bearbeitet und vor allem Dokumente zur Verfügung gestellt (beglaubigte Kopien, Geburtsurkunden, …). Ausweise oder Pässe können Bürger*innen in Goražde nicht beantragen, denn diese werden von der Landesbehörde ausgestellt.
Geburten werden noch handschriftlich in großen gelben Büchern und neuerdings auch in einem zentralen Portal der Städte Sarajevo und Mostar erfasst. Das erzählte mir ein Mitarbeiter des Amtes während meiner Hospitation.
An einer Hochzeit durfte ich auch teilnehmen. Die Trauung dauerte ungefähr eine halbe Stunde und beide Partner hielten sogar eine kleine Rede.
In Bosnien wird „in Weiß“ geheiratet, und da es überwiegend ein muslimisches Land ist, gibt es keine kirchliche Trauung. Viele Paare heiraten in der Moschee. Der Trauungsraum ist kein besonderer Raum, wie bei uns im Rathaus. Es ist ein zweckmäßiger Raum, in dem auch größere Meetings stattfinden. Paare, die aus unterschiedlichen Gründen stillschweigend heiraten möchten, werden sogar im Büro des zuständigen Mitarbeitenden getraut.
Digitale Serviceangebote in dem Amt für Bürger*innen gibt es in Goražde noch nicht und soll es auch mittelfristig nicht geben, da viele ältere Menschen noch kein Internet nutzten. So kommt es schon mal zu längeren Wartezeiten, wenn Bürger*innen zwischen 8:00 -16:00 ohne Termin ihre Anliegen erledigen wollen.
Ich berichtete darüber, dass unsere vielfältigen digitalen Serviceangebote für Bürgeranliegen sehr gut angenommen werden. Darüber waren die Kolleg*innen sehr erstaunt, denn in Goražde ist es nicht selbstverständlich, dass jede*r das Internet nutzt. Das Angebot unseres ServiceCenters für Bürger*innen, die telefonisch Kontakt aufnehmen zu können, erwähnte ich natürlich auch.
Ausbildung in Bosnischen Verwaltungen
Junge Nachwuchskräfte absolvieren zunächst ein einjähriges Praktikum. Während dieser Zeit arbeiten sie in den unterschiedlichen Abteilungen, lernen die Tätigkeiten der Mitarbeitenden kennen und können sich somit gezielt auf eine Arbeitsstelle bewerben. Die Einarbeitungsphase dauert 1 bis 2 Jahre, in denen sie im zweitem Jahr an 2 Tagen der Woche zur Schule gehen, um gesetzliches Grundlagenwissen zu erwerben, das für die Arbeit in der Verwaltung wichtig ist. Klausuren werden übrigens nicht geschrieben. Das erzählte mir Amila Perla, denn mit ihr verbrachte ich meinen ersten Praktikumstag.
Sie selbst wollte auch ganz viel zu meiner Ausbildung bei der Stadt Wuppertal wissen und wir verglichen die Vor- und Nachteile unserer Ausbildungsstruktur. Das einjährige Praktikum bei der Stadt Goražde wird übrigens nicht vergütet und auch während der Einarbeitungszeit erhalten die Nachwuchskräfte nur ein geringes Entgelt.
Pausenkultur mal ganz anders
In den Mittagspausen ging es ins nächstliegende Café. Die Kolleg*innen trafen sich zum Mittagessen, was schon einmal 1-2 Stunden dauern konnte, sprachen dort aber auch über Arbeitsthemen. Der Gesprächsort für Arbeitsgespräche ist schließlich gleichgültig. Warum dann nicht in entspannter Atmosphäre? Ich hatte das Gefühl, dass diese Art der Arbeitskultur auch zum besseren Miteinander der Kolleg*innen untereinander beiträgt.
Empfang beim Bürgermeister.
In der zweiten Woche empfing mich der Bürgermeister der Stadt, Ernest Imamović, der in den 1990er Jahren mit seiner Mutter als Flüchtling nach Deutschland kam. Wir unterhielten uns -entspannt auf Deutsch- über mein Praktikum. Er fragte mich auch nach unserer Verwaltung und ich erzählte von meinen Erfahrungen.
Viel Zeit hatten wir nicht, denn Ernest Imamović war sehr beschäftigt. Am nächsten Tag jährte sich der Gedenktag des Genozids in Srebrenica. Das Massaker in und in der Nähe von Srebrenica zog sich über mehrere Tage hin - vom 11. bis zum 19. Juli 1995. Um die 8400 Bosniaken, vor allem Jungen und Männer zwischen 13 und 78 Jahren wurden ermordet.
Ich sah ihn noch ein 2. Mal bei einem Interview zum kommenden Festival, welches im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Er berichtete über den Anlass des Festivals und stellte das Programm vor.
Meine Freizeit
In meiner Freizeit war ich viel in der Natur, denn es gibt viel unberührte Landschaften ringsum. Ich bin spazieren gegangen und habe immer wieder kleine Katzenbabys oder Welpen angetroffen. Bosnien hat leider ein Problem mit Straßentieren, da es viel zu viele gibt und sich keiner darum kümmern kann. Ich bin also in meiner Freizeit losgezogen und habe Futter für die Kleinen besorgt, um sie zu füttern.
Am Wochenende bin ich in den Bus gestiegen und zwei Stunden in die bosnische Hauptstadt nach Sarajevo gefahren. Ich war den Tag in der Baščaršija, dem alten Teil der Stadt, wo es viele Cafés und Boutiquen gibt. Ein Café hat mir besonders gefallen, das „ANDAR“. Dieses Café hat eine besondere Einrichtung.
Wie man auf dem Bild sehen kann, hängen dort Schuhe von der Decke. Es ist nach alter Tradition eingerichtet. Dort kann man super bosnischen Kaffee trinken und mit hausgemachten Rosen „Lokum“ genießen. Dazu habe ich mir noch eine sehr leckere, hausgemachte Rosen-Limonade bestellt. Das kann ich jedem empfehlen, der mal nach Sarajevo kommt.
Was ich mitnehme …
Ich war mit meinem Auslandspraktikum in jeder Hinsicht sehr zufrieden.
Ich habe viele Erfahrungen und Eindrücke gesammelt: wie es ist, in einer kleinen Verwaltung zu arbeiten, wie Arbeitsprozesse insbesondere im „Bürger- und Standesamt“ funktionieren, wie „ausgedehnte“ Pausen für entspannte Arbeitsgespräche genutzt werden und wie nett die Kolleg*innen miteinander umgehen.
Insgesamt habe ich mich in meiner Freizeit gerne einfach entspannt und die Natur genossen. Denn wenn man Ruhe und Gelassenheit sucht, ist man in Goražde perfekt aufgehoben.
Im Nachhinein finde ich es schade, dass das Praktikum nur zwei Wochen gedauert hat. Obwohl ich sehr viele Einblicke bekommen habe, hätte ich gerne auch noch die Arbeit in anderen Abteilungen besser kennengelernt.
Zu meinen Zielen gehörte, selbstsicher auf neue Kolleg*innen zuzugehen und mit ihnen zu kommunizieren. Das ist mir besser gelungen, als ich gedacht habe. Ich habe mich in den zwei Wochen sehr wohl gefühlt. Das gibt mir ein gutes Gefühl für die Zukunft.
Ich konnte meinen bosnischen Wortschatz sowie meine Englischkenntnisse verbessern, und ich würde mich freue, wenn ich beide Sprachen auch beruflich einsetzten könnte.